Mai 1938, Emma Anna Berta ist 18 Jahre alt
Es fühlte sich rein und heilig an.
Eine Sünde vor Gott sei es gewesen, hatte ihre Mutter gesagt, eine Schande für die ganze Familie.
Ein gefallenes Mädchen klang, wie ein gefallener Engel.
Der gefallene Engel war ein Ausdruck für das Böse, für den Vater der Lüge, für den düsteren Herrscher dieser Welt.
Flieder aus dem Garten der Mutter und frische grüne Zweige hatte sie für den Firmungsgottesdienst mit Schwester Augusta an den Bänken arrangiert.
"Simons Haarschnitt sieht aus wie ein Heiligenschein. Ich frage mich warum ich nicht Priesterin werden kann", sagte Emma zu der Ordensschwester.
"Jesus hat nur Männer als Apostel erwählt, er hat uns Frauen nicht den Auftrag gegeben sein Wort zu verkünden."
"Vor Gott sind alle gleich, hat Paulus an die Römer geschrieben. Also sind auch wir Frauen gleich!"
"Das steht nicht so in der Bibel, rede nicht so. Und ich sage dir das, weil ich es gut mit dir meine. Das ist gar nicht recht, was ihr da am städtischen Mädchengymnasium lernt!", flüsterte Schwester Augusta. "Frau sein bedeutet Pflegen, Beschützen und Dienen, für Sittlichkeit und Ordnung eintreten, und jede Arbeit als Abbild von Gottes Wirken begreifen."
"Frauen können, wie Bertha von Suttner, auch Schriftstellerinnen werden, den Friedensnobelpreis erhalten, und die Welt verändern!" sagte Anna laut.
Wie ein Dachs kletterte Simon außen an der Treppe zur Kanzel entlang. Der Pfarrer reichte ihm die Girlanden aus Birkenzweigen. Emma beobachtet aus den Augenwinkeln seine drahtigen Unterarme. Einige Ministranden übten mit dem Küster vor dem Altar für den Gottesdienst.
Simon hatte angeboten, sie auf dem Heimweg in das Nachbardorf mit dem Fahrrad zu begleiten. Eine gute Tat von dem zukünftigen Herrn Pfarrer. Sie kannte ihn schon immer. Er war ein ehemaliger Volksschulkamerad ihrer älteren Schwester. Im Seminar in München studierte er Theologie, seit Herbst hatte er sein externes Jahr in der Heimatgemeinde absolviert.
Über den Sinn hatten sie diskutiert und ihre Wünsche für das Leben, als sie gemeinsam sie die Jungschar vorbereitet hatten. Simon fühlte sich berufen sein Leben in den Dienst Gottes zu stellen, hatte er ihr bei dem wohltätigen Kleiderbasar erzählt. Als Seelsorger und Hirte wollte er das Leben, Streben und Sterben einer Gemeinde begleiten. Über das Gute und das Böse in der Welt hatten sie mit den Firmlingen diskutiert. Eine verführerische, widergöttliche Stimme bringt Menschen dazu Schlechtes zu tun, sagte Simon. Emma hatte widersprochen. Sie fand es wichtig für die Heranwachsenden zu erkennen, dass man manchmal selbst Schuld trägt und nicht von einem bösen Geist veranlasst wurde. Man soll sich an die Regeln halten und demütig sein, sagte Simon. Man darf hinterfragen, was man tut, fand Emma.
Dicke Wolken hatten sich aufgetürmt und der heitere Maihimmel hatte sich dunkel zugezogen. Der aufkommende Wind machte das Fahrradfahren anstrengend. Alte braune Blätter des Vorjahres wehten durch das neue zarte Grün und über den Waldweg.
Mit dem ersten Blitz kam der Regen.
Schwere kalte Tropfen.
Hagelkörner peitschten Emma ins Gesicht.
Der nächste Blitz erleuchtete die Wiese taghell.
Direkt danach kam wie ein lauter Paukenschlag der Donner.
"Das Gewitter ist direkt über uns, wir müssen uns in Sicherheit bringen!", sagte Emma atemlos. "Dahinten bei dem Hügel ist eine Scheune, dort hätten wir ein Dach über dem Kopf."
"Los!", schrie Simon gegen den Wind.
Emma war froh, als sie die Holzhütte erreichten, ihr Kleid war tropfnass. Mit kalten Fingern rüttelte sie an dem Tor. Doch die Türe der Scheune war stabil verschlossen.
Es knisterte als ein Blitz aus den schwarzen Wolken einen Lichtbogen in den Horizont malte.
Der Donner war so laut, dass Emma ihn am ganzen Körper spürte.
Sie rannte um die Hütte.
Da war eine Lüftungsöffnung, aber sie lag zu hoch.
Der hölzerne Laden schlug im Wind umher.
Ein Holunderbaum und ein Fliederbusch standen unterhalb des scheibenlosen Fensters. Simon lehnte sein Fahrrad an den Schuppen, sah nach oben und kletterte dann wie eine Katze an dem Holunderbaum hinauf und sprang in das Fenster hinein. Er legte sich auf den Bauch, beugte sich hinaus uns streckte Emma seinen Arm entgegen.
"Komm!", rief er. "Wenn du mit den Füßen auf den unteren Zweig trittst und mir die Hand reichst kann ich Dich hereinziehen.
"Du musst keine Angst vor dem Gewitter haben, wir sind durch die Bäume auf dem Hügel geschützt, hier wird kein Blitz einschlagen", sagte Simon zu der zitternden Emma.
"Mir ist es nur kalt", sagte sie und Simon zog seine nasse Jacke aus und legte sie Emma um die Schultern. Emma lachte, denn mit der nassen Jacke fühlte es sich noch kälter an. Simon schmiss die Jacke auf das Heu und legte seinen Arm um Emma.
Emma konnte sich an die Wärme seines Körpers erinnern, als er auf ihr lag.
An den Fliederduft, an das kitzelnde Heu und an seine weißblonden Haare, die sie zur Seite strich, entsann sie sich auch.
Sie wusste, dass sie ihre Arme um ihn geschlungen hatte. Sie schaute ihm in die Augen und sie erkannte ihn, wie Adam Eva erkannt hatte.
"Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme . . . (aus dem Hohen Lied Salomos, Altes Testament)
Es fühlte sich rein und heilig an.